Halt im Gedächtnis Jesus Christus, der auferstanden ist von den Toten. (2. Tim. 2,8a)
Das Gedächtnis ist ein seltsames Ding. Wo auch immer es seinen Platz hat im menschlichen Organismus. Im Kopf, wo sich die Gedanken sammeln. Im Herzen, wo ich die schönsten Momente eingeschlossen habe und die schlimmsten. Auf der Zunge, die den Geschmack der Schokolade noch weiß, die mein Großvater mir gab als Wegzehrung beim Wandern.
Das Gedächtnis braucht Wegweiser für die Erinnerungen. Wörter, Bilder, Klänge, Geschmack. Hänsel und Gretel haben ihre letzten Bröckchen Brot im Wald hinterlassen als Markierung. Die wurden von Vögeln gefressen. Dann haben sie Kieselsteine genommen und den Weg doch wiedergefunden aus dem Dunkel heraus.
Dunkle Wegstücke gibt es auch im echten Leben, zwischen Eltern und Kindern, Lebenspartnern, Freunden. Dann hilft, sich das Gute ins Gedächtnis zu rufen. Das allererste Lächeln. Die Musik, zu der wir getanzt haben. Die heimlich geteilte Zigarette hinterm Schulgebäude.
Auch im Glauben gibt es dunkle Strecken. Zeiten von Ungewissheit. Einsamkeit und Zweifel. Und dann wieder tiefe Verbundenheit. Die Bibel ist voll von diesem Beziehungs-Auf und Ab zwischen Gott und Menschen. Auf beiden Seiten Liebe. Dann einseitige Untreue der Menschen. Und einseitige Erneuerung des Bundes durch Gott. Zuletzt schickt Gott Jesus und beschreitet selbst menschliche Wege.
Halt im Gedächtnis! Wer das zu einem andern sagt, spürt wohl, die Beziehung steht auf der Kippe. Bleib treu, steht im Predigttext. Ein Abschnitt auf dem 2. Timotheusbrief. Schon nach wenigen Jahrzehnten haben die Christen das Album mit den Bildern vom Glaubens-Anfang ganz nach hinten ins Regal geschoben und vergessen.
Der Brief ist im Namen von Paulus geschrieben. Der Apostel hat gelitten, weil er sich zu Christus bekannte. War in Haft, in Ketten gelegt wie ein Verbrecher. Offenbar empfanden die Herren der Welt sein Bekenntnis als bedrohlich. Damit liegen sie nicht falsch. In seiner bedrängten Lage macht Paulus anderen Bedrängten Mut. Christus ist von den Toten auferstanden! Jeder in Not soll wissen: Nach dem Leiden, nach dem Tod ist Leben.
Den Bedrängten Mut machen. Weil er das selbst erlebt hat, geht der ehemalige Sternekoch zurzeit jeden Abend in ein Obdachlosen-Camp und kocht für die Männer und Frauen, die dort in Quarantäne sind.
Was hilft dem Gedächtnis auf die Sprünge? Eine Frau ruft ihre Schulfreundin an im Altenheim. Die hat ihr Gedächtnis verloren. Erkennt schon lange keinen mehr. Eine Altenpflegerin bringt ihr das Telefon ins Zimmer. Hörst du, sagt die Anruferin, mit einem Kloß im Hals, morgen ist Ostern. Dann singen wir wieder: Christ ist erstanden von der Marter alle. Undeutlich kommt aus dem Telefon zurück die Stimme der Kranken: Des solln wir alle froh sein, Christ will unser Trost sein.
Der Glaube kennt Durststrecken. Manche Erfahrung stellt die Beziehung zu Gott auf die Probe. Vielleicht sitzen wir da wie Paulus, mit gebundenen Händen. Dann können wir schauen, was wir noch im Gedächtnis haben. In einem Winkel des Herzens, im Kopf oder auf der Zunge. Christus ist auferstanden von den Toten!
Was, wenn ich nicht glauben kann? Wenn die Erinnerungs-Bröckchen längst aufgezehrt sind? Jesus hat das auch erfahren, das Nichtglauben. Am Kreuz. Sein Herz hat die Worte hervorgekramt aus dem Gedächtnis. Psalm 31. Gott, in deine Hände befehle ich mein Leben. Die Zunge hat sie ausgesprochen und das Gebet hat ihn durch die äußerste Finsternis getragen. So können wir uns auch tragen lassen. Irgendwo auf der Welt betet jemand für uns mit. Womöglich ganz in der Nähe. Der Briefschreiber sagt zum Schluss des Abschnitts, wie Gott in Christus zu uns steht: Selbst wenn wir untreu sind, so ist er dochtreu.
Fröhliche Ostern wünscht Ihre Pastorin Charlotte Scheller!
Den kompletten Text für den frühen Ostermorgen lesen Sie hier: 2. Timotheus 2,8-13
Wenn ich morgens aufwache, dann nicht vom Autolärm wie sonst.
Wenn ich durch die Stadt gehe, ist es deutlich ruhiger. So als ob eine unsichtbare Glocke über alles gestülpt wäre. Die Geräusche - Lachen, Geplauder, Menschenstimmen - sie sind sehr gedämpft.
Still ist es in vielen Wohnungen. Kinder und Enkel sind nicht da.
Still ist es heute am Karsamstag. Heute läutet keine Glocke. In den letzten Tagen habe ich so manches Mal bewusst zugehört. Bin an die Tür gegangen, wenn sie um 18 Uhr den Feierabend eingeläutet haben.
Still ist es damals in Jerusalem. Es ist vorbei.
Die große Auseinandersetzung. Der Show-Down.
Doch gewonnen haben die anderen.
Kein Happy End.
Der Vorhang ist gefallen.
Josef von Arimathäa geht zu Pilatus. Bittet ihn um den toten Jesus. Dann legt er ihn eigenhändig in die dunkle Grabhöhle. Eigentlich hat er sie für sich selbst gekauft. Nun liegt hier der König der Juden. So hat er sich jedenfalls genannt.
War er‘s? War er’s nicht?
Keine Antwort.
Die Höhle ist dunkel.
Kein Lebenszeichen von außen dringt herein.
Er legt ihn hin. Die rauen Männerhände wickeln den Toten fast liebevoll in die Tücher. Jetzt ist die Arbeit getan.
Josef wendet sich zum Gehen.
Am Eingang dreht er sich noch einmal um.
Seine Tränen sind versiegt.
Es ist still.
Dann ist er draußen. Er schiebt den großen Stein mit aller Macht vors Grab. Vor den Tod. Vor die Dunkelheit.
Jetzt ist wirklich nichts mehr zu tun.
Josef geht.
Still ist es im Grab.
Durch einen Spalt fällt ein schwacher Lichtstrahl.
Von außen ist nichts zu sehen.
Den Predigttext für Karsamstag können Sie bei Matthäus 27,57-61 nachlesen.
Heute wären wir sehr gerne in der Kirche. Die besondere Liturgie: Die Glocken schweigen. Die Orgel schweigt. Der Pastor/die Pastorin spricht kniend vor dem Altar das Bußgebet: Während der Bericht vom Sterben Jesu nach Joh. 20 gelesen wird, verlöschen die Kerzen am Altar. Der Tod Jesu macht uns unfassbar, unser Glaubensbekenntnis verstummt. Schweigend verlassen wir nach dem Segen die Kirche. Und kehren vielleicht noch einmal um 15.00 Uhr zur Andacht zur Sterbestunden zurück. In einigen Gemeinden wird Karfreitag Abendmahl gefeiert.
Nur: Heute feiert jeder/jede von uns zu Hause, verbunden sind wir nun durch diesen Gottesdienst, verbunden durch Gott, den Vater Jesus Christi in der Kraft des Heiligen Geistes.
Kyrie eleison Christe eleison
Kyrie eleison
Psalm 51, 3-14
Gott, sei mir gnädig nach deiner Güte, und tilge meine Sünden nach deiner großen Barmherzigkeit. Wasche mich rein von meiner Missetat, und reinige mich von meiner Sünde; denn ich erkenne meine Missetat, und meine Sünde ist immer vor mir. An dir allein habe ich gesündigt und übel vor dir getan, auf dass du recht behaltest in deinen Worten und rein dastehst, wenn du richtest.
Verbirg dein Antlitz vor meinen Sünden, und tilge alle meine Missetat. Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz und gib mir einen neuen, beständigen Geist. Verwirf mich nicht von deinem Angesicht, und nimm deinen heiligen Geist nicht von mir. Erfreue mich wieder mit deiner Hilfe, und mit einem willigen Geist rüste mich aus.
Vater unser im Himmel. Geheiligt werde Dein Name, Dein Reich komme, Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Und führen uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen, denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.
Lied EG 85 – O Haupt voll Blut und Wunden
1) O Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn, o Haupt, zum Spott gebunden mit einer Dornenkron, o Haupt, sonst schön gezieret mit höchster Ehr und Zier, jetzt aber hoch schimpfieret: gegrüßet seist du mir!
2) Du edles Angesichte, davor sonst schrickt und scheut das große Weltgewichte: wie bist du so bespeit, wie bist du so erbleichet! Wer hat dein Augenlicht, dem sonst kein Licht nicht gleichet, so schändlich zugericht'?
7) Ich danke dir von Herzen,
o Jesu, liebster Freund,
für deines Todes Schmerzen,
da du´s so gut gemeint.
Ach gib, dass ich mich halte
zu dir und deiner Treu
und, wenn ich einst erkalte,
in dir mein Ende sei.
8) Wenn ich einmal soll scheiden, so scheide nicht von mir, wenn ich den Tod soll leiden, so tritt du dann herfür; wenn mir am allerbängsten wird um das Herze sein, so reiß mich aus den Ängsten kraft deiner Angst und Pein.
Lesung nach Joh. 19,17-37
17 Und er trug sein Kreuz und ging hinaus zur Stätte, die da heißt Schädelstätte, welche heißt auf Hebräisch Golgatha. 18 Allda kreuzigten sie ihn und mit ihm zwei andere zu beiden Seiten, Jesum aber mitteninne.
19 Pilatus aber schrieb eine Überschrift und setzte sie auf das Kreuz; und war geschrieben: Jesus von Nazareth, der Juden König. 20 Diese Überschrift lasen viele Juden; denn die Stätte war nahe bei der Stadt, da Jesus gekreuzigt ward. Und es war geschrieben in hebräischer, griechischer und lateinischer Sprache. 21 Da sprachen die Hohenpriester der Juden zu Pilatus: Schreibe nicht: "Der Juden König", sondern daß er gesagt habe: Ich bin der Juden König. 22 Pilatus antwortete: Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.
23 Die Kriegsknechte aber, da sie Jesus gekreuzigt hatten, nahmen sie seine Kleider und machten vier Teile, einem jeglichen Kriegsknecht ein Teil, dazu auch den Rock. Der Rock aber war ungenäht, von obenan gewirkt durch und durch. 24 Da sprachen sie untereinander: Laßt uns den nicht zerteilen, sondern darum losen, wes er sein soll. (Auf daß erfüllet würde die Schrift, die da sagt: "Sie haben meine Kleider unter sich geteilt und haben über meinen Rock das Los geworfen.") Solches taten die Kriegsknechte.
25 Es stand aber bei dem Kreuze Jesu seine Mutter und seiner Mutter Schwester, Maria, des Kleophas Weib, und Maria Magdalena. 26 Da nun Jesus seine Mutter sah und den Jünger dabeistehen, den er liebhatte, spricht er zu seiner Mutter: Weib, siehe, das ist dein Sohn! 27 Darnach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.
28 Darnach, da Jesus wußte, daß schon alles vollbracht war, daß die Schrift erfüllt würde, spricht er: Mich dürstet! 29 Da stand ein Gefäß voll Essig. Sie aber füllten einen Schwamm mit Essig und legten ihn um einen Isop und hielten es ihm dar zum Munde. 30 Da nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht! und neigte das Haupt und verschied.
31 Die Juden aber, dieweil es der Rüsttag war, daß nicht die Leichname am Kreuze blieben den Sabbat über (denn desselben Sabbats Tag war groß), baten sie Pilatus, daß ihre Beine gebrochen und sie abgenommen würden-32 Da kamen die Kriegsknechte und brachen dem ersten die Beine und dem andern, der mit ihm gekreuzigt war. 33 Als sie aber zu Jesus kamen und sahen, daß er schon gestorben war, brachen sie ihm die Beine nicht; 34 sondern der Kriegsknechte einer öffnete seine Seite mit einem Speer, und alsbald ging Blut und Wasser heraus.
35 Und der das gesehen hat, der hat es bezeugt, und sein Zeugnis ist wahr; und dieser weiß, daß er die Wahrheit sagt, auf daß auch ihr glaubet. 36 Denn solches ist geschehen, daß die Schrift erfüllet würde: "Ihr sollt ihm kein Bein zerbrechen." 37 Und abermals spricht eine andere Schrift: "Sie werden sehen, in welchen sie gestochen haben."
Predigt
Hast Du schon mal viele Tote auf einem Haufen gesehen?
Ja, auf Fotos, in der Tagesschau. Särge. Bilder dieser Tage aus Italien. Oder aus New York. Kühltransporter, die am Hinterausgang der Kliniken auf die nächsten Särge warten. Die vielen Verstorbenen in der Corona-Pandemie.
Ja, und die Fotos aus Buchenwald? Tote unverhüllt. Die Amerikaner fanden sie vor, als die Nazis, die banalen Bösen, geflohen waren? Abgemagerte Leichen zu Bergen gestapelt. Brillen, Schuhe, Gebisse fein getrennt wie wir heute den Müll trennen! Fotos sind das.
Hast Du schon mal persönlich einen Menschen sterben sehen?
Du sitzt an seinem Bett und hältst aus. Da ist ein großes Geheimnis mit dir im Raum. Der Sterbende spricht nicht mehr, du nimmst jede Reaktion intensiv auf. Ein ganzes Leben geht dir noch einmal durch den Kopf. Du denkst an vieles, aber nicht an deinen eigenen Tod.
Aber später oder vorher, da ist plötzlich der Gedanke da. Du wirst auch einmal sterben.
Hast du schon einmal deinen eigenen Tod gesehen?
Nein? Oder doch? Als Kind war das manchmal so. In einer Phase von stillem Trotz, wo ich mich nicht beachtet fühlte, da habe ich mich tot gesehen. Ich bin tot und sehe die anderen auf meiner Trauerfeier. Sie bekommen endlich ein schlechtes Gewissen, dass sie sich nicht um mich gekümmert haben. Später, in Situationen großer Verzweiflung habe ich mich bei diesem Gedanken wieder erwischt. Aber nicht nur in diesen durchschaubaren Situationen habe ich meinen Tod gesehen. Bei jeder Beerdigung, wenn ich ins Grab sehe, 3 x Erde werfe, ist mir mein eigener Tod nahe. Das hat was Erregendes, etwas ganz Fundamentales. Manchmal erschreckend, aber auch beruhigend. Dieser Hauch des Lebens, der letzte Atemzug.
Hast du Jesus schon sterben sehen?
Ja, schon sehr oft, habe ein Kreuz in der Kirche, auf einem Bild betrachtet, betrachtet aus einer Distanz. Eine Bildbetrachtung. Als Grünewald dieses ästhetische Erleben um 1510 mit seinem Isenheimer Altar durchbrach, war da ein großer Aufschrei. Wie kann man das so genau darstellen! Für uns ist es mittlerweile wieder eine Kunstbetrachtung wie im Museum. Ästhetisches Erlebnis.
Noch schneller und besser sind wir, wenn es um den Umgang mit dem Sterben Jesu geht, auf der Deute-Ebene, der intellektuellen Ebene. Und da bietet uns ja die Bibel und so manche Predigt eine Fülle von Antworten an.
Jesus vertritt uns.
Die Menschen damals nehmen ihre Bibel, das Alte Testament zur Hilfe, das Kreuz zu deuten und sagen: Es bedarf eines Vermittlers zwischen Menschen und Gott, sagen sie.
Mose war einer, Elia und Jesus auch. Er vertritt uns vor Gott. Er handelt stellvertretend für uns. Gut, damit kann ich was anfangen. Stellvertretend handeln, das muss ich als Vater auch, solange die Kinder noch nicht auf eigenen Beinen stehen.
Er leidet stellvertretend. „Fürwahr, er trug unsere Krankheit“. Das kann ich auch nachvollziehen. Nelson Mandela z. B. hat in 20 Jahren Gefängnis den Gedanken der Freiheit für alle Schwarzen wachgehalten, dass viele sich daran aufrichten konnten. Aber damit habe ich das Geheimnis des Kreuzes noch nicht erfasst. Es gibt viele Menschen, die viel länger und viel mehr gelitten haben als Christus.
Jesus ist stellvertretend gestorben. Das kenne ich auch. Wie viele Märtyrer in unserer Geschichte sind um einer Wahrheit willen gestorben: Gandhi, Bonhoeffer, Kolbe, und Jesus für Barrabas. Aber habe ich das Geheimnis des Kreuzes damit erfasst?
Er ist für meine Sünden gestorben: Selbst diesen Gedanken kann ich noch mit vollziehen. Das gibt es, dass jemand für einen anderen den Kopf hinhält.
Dass sich ein Mensch aus Liebe opfert, kenne ich. In einer Ehe ist ständig Krieg. Die Mutter versucht durch Verzicht, ihr Kind zu schützen und hält viel aus. Der Junge spürt, dass Mutter die eigenen Interessen bis zum Unglück unterdrückt, sich opfert und Garant seines Lebens ist. Irgendwann flippt Mutter völlig aus. Der Junge hat das Gefühl, er sei schuld am Unglück der Mutter. Mutter stirbt früh. Eine tiefe Wunde reißt in seine Seele. Opfer aus Liebe gibt es.
Aber habe ich das Geheimnis des Kreuzes verstanden? Ich denke, nein.
Gott opfert seinen Sohn
Gott ist zornig über die Sünde der Menschen und muss in seinem Zorn durch ein Blutopfer befriedigt werden und opfert seinen eigenen Sohn. Da hört mein Verständnis auf. Welch blutrünstiges Gottesbild! Eine alte vorchristliche Deutung - durch das Alte Testament verstärkt - fließt in die Deutung des Kreuzes ein. Gott braucht Befriedigung für seinen Zorn über unsere Sünde. Er bringt seinen Sohn um, damit er mit uns zufriedengestellt wird. Was tobt sich da in Phantasien ab. Wie viele Passionslieder sind von diesem Gedanken besetzt. Ich möchte ihn nie mehr denken. Als ich das in einer Rundfunkandacht einmal sagte, hatte ich hinterher böse Anrufe. „Sie verwirren die Menschen“, mailte mir ein empörter Hörer. Selbst ein Theologieprofessor aus Göttingen beschimpfte mich öffentlich. Trotzdem, unmöglich die Deutung.
Darum alle Deutungen beiseite.
Ich schaue noch einmal in die Geschichte. Matthäus, Markus und Lukas sind mir dabei eine Hilfe. Sie deuten in ihrem Bericht des Todes Jesu nicht, sie beschreiben.
Hast du Jesus schon einmal sterben sehen? Sie schütten ihm Galle in den Wein. Das ist zum Kotzen. Sie ziehen ihm die Kleider aus und stellen ihn bloß. Du liegst im Sterben und die Erben kloppen sich.
Pilatus weiß über Jesus Bescheid, aber er folgt der Gunst des Volkes. Kaiphas weiß Bescheid, aber er will lieber Blut des einen als das vieler. Petrus verspricht Treue und leugnet. Judas will anstacheln zum Handeln und bewirkt das Gegenteil. Selbst Simon trägt das Kreuz gegen seinen Willen. Sie handeln alle aus Angst. Sie sind nicht, was sie sein möchten. Sie können sich nicht fallen lassen. Jesus setzt an die Stelle der Angst sein ganzes Vertrauen.
Das ist meine Deutung des Kreuzes, wenn Sie so wollen: Nicht Gott hat seinen Sohn geopfert zur Versöhnung. Sondern Jesus hat ein Leben gelebt, wie Gott es für uns gedacht hat. Diesem Leben und diesem Gott, seinem Vater ist er treu geblieben. Er hat sich diesem Leben und diesem Gott anvertraut.
Das Kreuz, das ist das Bild großer Hingabe.
Ich ahne ihre Kraft. Im Sterben lerne ich meine absolute Bedürftigkeit.
Ich kann und muss nichts mehr tun. Ich lasse alles los. Kann es sein, dass ich Gott dort am nächsten bin? Weil ich auf mich selbst verzichten muss? Welche Liebe dort am Kreuz Jesu!
Ich sehe auf seine Wunden und versuche, das auszuhalten. „Mich in das große Meer der Liebe zu versenken.“ Wenn wir mit jemandem eine Angstpartie durchstehen, sagen wir: „Ich wäre fast mit dir gestorben.“ Hast du seinen Tod gesehen? Ja, und er ist so etwas wie ein stellvertretender Tod. In ihm sehe ich meine Unfähigkeit zu glauben und meine eigene Gottesferne. Sie beschämt mich heute. Und darum bin ich ihm und mir ganz nahe.
Christus ist am Kreuz der Handelnde. Er handelt in seinem großen Vertrauen gegenüber seinem Vater. Gott, sein Vater, bestätigt ihn durch die Auferstehung. Es ist die Liebe Christi, nicht das Bedürfnis Gottes, dass Blut fließt.
Jetzt müssen wir noch eines klären.
In der Liturgie des Abendmahls sagen wir: Christi Leib für dich gegeben,Christi Blut für dich vergossen.
Es scheint allem zu widersprechen, was ich bisher gesagt habe. Die Liturgie leitet sich von Paulus 1.Kor 11 ab. Da steht das so.
Ich halte mich an Lukas.
Dort heißt es: dies ist mein Leib für dich gegeben, dies ist der Kelch in meinem Blut für euch vergossen.
Vergleichspunkt sind Leib und Kelch. Also die Verbundenheit mit Christus und die Gemeinschaft derer, die zu seinem Leib gehören.
Ich weiß, ich stolpere noch.
Brauche ich das? Dass er für mich stirbt? Will ich das? Für meine Sünde? Bin ich ein schlechter Mensch? Die Frage bleibt.
Das ist meine Antwort, mein Weg: Ich suche die persönliche Beziehung zu Christus, schaue ihn am Kreuz an und ahne, was Hingabe, was Liebe ist und sage beschämt: Danke.
Für mich gestorben - Du!
Gebet
Jesus Christus, deine Liebe ist groß. Du hast dich hingegeben. Du hast für das Wort deines Vaters eingestanden und den Tod auf dich genommen. Rache, Gewalt und Unbarmherzigkeit haben bei dir keinen Raum. Wir danken Dir.
Wir bitten Dich in diesen Tagen: Steh allen bei, die Angst haben um ihre Gesundheit, um ihre Zukunft. Tröste sie.
Stärke alle, die sich kümmern um die Gefährdeten, die Kranken. In den Krankenhäusern, den Altenheimen, in den Häusern.
Begleite die Sterbenden, die ohne Beistand der Familie gehen müssen. Nimm sie gnädig auf.
Lenke die Sinne all derer, die Verantwortung in der Politik haben. Dass sie nicht lügen, dass sie besonnen entscheiden.
Behüte uns selbst.
Du kennst das Leiden, die Angst, den Spott, den Verrat. So bist du uns ganz nahe. Amen.
Segen Der Herr segne Dich und behüte dich, der Herr lasse leuchten sein Angesicht über dir und sei dir gnädig, der Her erhebe sein Angesicht auf dich und gebe Dir Frieden. Amen.
Jesus Christus, du teilst dich mit. Wir danken dir für deine Liebe, deine Vergebung. Unser Herz ist voller Unruhe. Wir bitten Dich, befreie uns von unseren Ängsten. Du gibst uns alles von Dir. Öffne unsere Herzen für alle, die uns brauchen. Lass uns verbunden bleiben durch dich.
Amen.
Heinz Behrends, Superintendent i. R., Nikolausberg