„Hundert Jahre soll er werden“, singt die Nachbarin draußen vor seiner Tür. Er wehrt müde ab. Er hat mir gerade erzählt, dass er keinen Mut mehr hat zum Leben, an seinem 82. Geburtstag. Ich war vor 11 Uhr hingegangen, wir konnten in Ruhe miteinander reden. Doch jetzt steht die Nachbarin vor der Tür und lässt sich nicht beirren. „Hundert Jahre sollst du werden“, singt sie laut. Reinkommen will sie aber nicht. „So ist das immer“, sagt er, als sie wieder gegangen ist. „Große Sprüche machen sie alle, aber für uns Alte hat keiner Zeit. Sie ja auch nicht, Herr Pastor“. Ach ja, er hat recht, ich komme ja auch nur einmal im Jahr.
Jeden Tag geht er ans Grab seiner Frau und sagt ihr „Guten Morgen“ Heute hat er ihr erzählt, dass er Geburtstag hat. Und was ihm heute wieder weh tut.
Krankengeschichten. Sie und ich, wir könnten erzählen und erzählen. Sie beschäftigen uns. Meine Familie ist seit 20 Jahren eines der 2.000 Testfamilien für infratest. Wie verändert sich „Leben in Deutschland“? Vorgestern war eine Sonderbefragung wg Corona. Zum ersten Mal wurde ich gefragt: „Beten Sie? Mehrmals täglich. Täglich. Wöchentlich. Monatlich. Nie“. “Täglich“, hab ich gesagt.
Merkwürdig, was da für eine neue Sensibilität in der Unsicherheit dieser Tage wächst.
Krankheit und Bedrohung sind Orte des Glaubens und des Zweifelns. Die Fragen nach dem Glauben sind immer in bestimmten Lebenssituationen zu Hause, nicht so sehr in unseren theoretischen Gesprächen oder Predigten.
„Ich glaube ihren ganzen Wundergeschichten nicht, ich glaube nur, was ich verstehe, ruft ein kesser Freidenker einem Pfarrer zu. Und dieser antwortet: „Dann begreife ich, dass Sie nichts glauben.“
Unser Glaube geht im Verstehen nicht auf, er sucht sich zu recht in konkreten Lebenssituationen und kommt dort zur Sprache. Am ersten, wenn ich meine Grenzen erfahre. Wo ich nichts mehr verstehe. Darum ist die Krankheit oft ein Ort, an dem der Glaube nach einem Zu Hause sucht und anfängt zu reden.
Darum redet der Hauptmann von Kapernaum.
Eine eindrucksvolle Persönlichkeit. Ein römischer Besatzungsoffizier, der seine jungen Soldaten befehligt. Eine Hundertschaft hat er unter sich. Er weiß etwas von Macht und Autorität. Wenn er sagt: „Tue das“, dann tun sie das.
Nun ist einer seiner Knechte krank. Sein Adjutant, sein Laufjunge vielleicht, der die viele kleine Dinge des Alltags für ihn erledigt.
„Herr, mein Knecht liegt zu Hause und ist gelähmt und leidet große Schmerzen.“ „Kyrie“, sagt er. „Herr“. Wir bringen hier heute morgen in den Gottesdienst all unsere Erfahrungen der Woche mit. „Kyrie“ singen wir zu Beginn, „dass unser Nachbar so schnell sterben musste, verstehe ich nicht“. „Kyrie, ich kann von Corona nicht mehr hören. „Kyrie. Dass Menschen in unseren Krankenhäusern ohne Beisein ihrer Lieben sterben müssen. Dass so was sein muss. Kyrie. Kyrie eleison.“
Ich sehe mich in meiner Hilflosigkeit. Mein Kleinglaube ist mir leid. Kyrie, Kyrie eleison.
Wir nehmen den ehrlichen, aber auch unbefangenen Ruf des Hauptmannes im Gottesdienst auf. „Der bat ihn. Kyrie“ und Jesus hört. „Ich will kommen und ihn gesund machen.“ Was! Du, Herr, in meinem Haus? Ich bin unwürdig. Ich bin viel zu klein. Mußt gar nicht kommen. Sprich nur ein Wort, so wird mein Knecht gesund.“ Ein Wort genügt. Worte haben eine Kraft, die verändert. „Yes, we can.“ Mit diesem Wort hat Obama die Menschen mobilisiert. Du kannst es. Ohne einen Anflug von Zweifel traut er Jesus zu, dass er heilt. Aus der Ferne. „Du machst das schon.“
Da kann der Hauptmann an seiner Grenze alle Macht abgeben in die Hand des Heilands. Sprich ein Wort, mehr bedarf es nicht.
„Solchen Glauben habe ich in Israel noch nie gesehen.“
Sprich aus, was dich bewegt. Leg es Gott vor. Und dann warte auf Antwort. Das ist Glaube. Du musst dich deshalb nicht verbiegen, dich nicht selber aufgeben, dich nicht schlecht machen und vorher Buße tun, keine Voraussetzungen erfüllen.
Oh Gott, wie kompliziert mach ich es mir da manchmal.
Wer weiß, ob er mich hört? Wer weiß, ob meine Wünsche nicht viel zu groß sind? Wer weiß, ob es ihn überhaupt gibt?
Der Heide ein Vorbild des Glaubens. „Sprich nur ein Wort und mein Knecht wird gesund. Und er ward gesund“. Ein Wunder!
Ich muss hier einen Exkurs machen: Ich könnte jetzt sagen: Ja, Wunder gibt es immer wieder. Ich könnte versuchen, es wissenschaftlich zu erklären. Hilflos wäre ich. Vielleicht sogar peinlich. Ich könnte mit Humor abwehren. Jesus konnte übers Wasser gehen, weil er wußte, wo die Steine liegen. Nein. So nicht. Wenn Gott die Natur geschaffen hat, dann kann er ihre Gesetze auch durchbrechen. Dazu hat er Jesus die Macht gegeben. Richtig. Nur: Wir leben in einer wissenschaftlich geprägten Welt. So war das nicht in der Antike, der Zeit Jesu. Wunder waren normal. Viele tun Wunder. Kein Großer kann sich leisten, dass man nicht von Wundern von ihm erzählt. Sie sind Zeichen für die Macht einer Persönlichkeit. Der Evangelist Johannes numeriert sie: Das Weinwunder auf der Hochzeit zu Kana. „Dies war das erste Zeichen, das er tat“. Nicht so bei Matthäus und Markus und Lukas.
Da fallen die Triebwerke des Airbus über New York aus, der Pilot landet das Flugzeug im Hudson- River, 2009 war das. Alle überleben. Viele erleben es als ein Wunder. Der Pilot sagt in aller Demut, wie er es gemacht hat. Wunder sind nicht objektiv. Sie sind subjektiv. Ich erlebe etwas Wunderbares und sage, das war ein Wunder. Die Evangelisten erzählen von den Wundern Jesu. Nicht was geschah, ist wichtig, sondern was man davon berichtet und wie. Nicht wichtig, ob es historisch war, sondern wie es weitererzählt wird. Das Ergebnis wird erzählt, nicht wie es geschah. Es sind ja subjektive Erlebnisse der Gemeinde. Also nicht die Tatsache, so war es wirklich, sondern die innere Verarbeitung. Das Wunder in der Seele. Und das geschieht im Glauben. Exkurs Ende. Wir sehen es an der Geschichte vom Hauptmann. Die Heilung wird nicht erzählt, woran der Knecht leidet, auch nicht. Es ist das Vertrauen des Hauptmannes. „Sprich du nur ein Wort“. Und Jesus sagt am Ende. „Dir geschehe, wie du gesagt hast“: Er sagt nicht: „Sieh mal, was ich kann“. Das Vertrauen überwindet die Macht der Krankheit. Das gilt selbst für Sterbende, wenn sie auf die ewige Gegenwart Gottes vertrauen. Das Wunder ist das Wunder des Vertrauens. Petrus kann übers Wasser gehen. Als er auf die Wellen schaut und Angst bekommt, versinkt er.
So enden dann viele Wunder-Geschichten Jesu: „Geh hin, dein Glaube hat dir geholfen“. Das Wunder geschieht nicht in der Natur, in der Aufhebung der Naturgesetze, sondern im Menschen, in seiner Seele.
Und wenn ich selber nicht vertrauen kann, dann tun es die anderen. So wie der Hauptmann. Der Knecht glaubt nicht, der Gelähmte glaubt nicht, jedenfalls wird davon nicht erzählt. Das Vertrauen der anderen ist es.
Meine Schlüsselerfahrung machte ich vor 35 Jahren. Wir waren gerade nach Hannover gezogen, weil ich Pastor an der Marktkirche wurde. Christian, unser Jüngster kommt vom Fußball der Pampers-Liga von Hannover 96 nach Hause, übersät mit blauen Flecken. Diagnose Leukämie, er war gerade 5 geworden. Am folgenden Sonntag hatte ich über die Heilung des Gelähmten (Mk 2) zu predigen. Da nehmen 4 Freunde die Bahre mit dem Gelähmten, decken das Dach von dem Haus ab, wo Jesus predigt. „Sie machten ein Loch und ließen das Bett herunter“. „Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh“ sagt Jesus zu ihm. Das Vertrauen der Vier heilt ihn. Wunder des Vertrauens. Als am Ende der Therapie nach zwei Jahren mit vielen Zwischenfällen – Erbrechen, Schleimhäute lösen sich, dicke Lymphknoten- der Professor ihn untersucht hat, sagt der: „Christian, steh auf, du bist gesund“. Seitdem war er eine Nacht in einem Krankenhaus und hat jetzt eine Familie mit zwei Töchtern. Wir waren umgeben gewesen vom Vertrauen der anderen.
Wenn dein Vertrauen zerbrochen ist oder gestört, dann tun es andere für dich. Und ihr Vertrauen ist heilsam.
Wenn dein Vertrauen zerbrochen ist oder gestört, dann tun es andere für dich. Und ihr Vertrauen ist heilsam.
Wo sucht dein Glaube sein zuhause? An der Grenze? Wenn du krank bist? Mitten im Leben?
Werft euer Vertrauen nicht weg, denn es findet reichen Lohn, sagt der Hebräer-Brief. So vertraue. Du wirst dein eigenes Wunder erleben.