Küssen
Judas verrät Jesus mit einem Kuss. „Den ich küsse, der ist es“. Am folgenden Nachmittag um 3 wird Jesus gekreuzigt und stirbt. Ungeheuerlich, der Kuss ist der intimste Ausdruck von Verbundenheit. Sex-Arbeiterinnen erzählen, dass sie vieles anbieten, aber ein Kuss ist verboten. Der Kuss, er bringt Jesus den Tod.
Merkwürdige Zeiten sind das, in denen wir in diesen Wochen der Corona-Pandemie leben. Ein Kuss kann wieder den Tod bringen. Ein Kuss, nicht aus Argwohn oder verräterischer Absicht, sondern ein Kuss aus Liebe. Mehr als das: Abstand halten, mindestens 1,5 m, so sollen wir uns verhalten und sehen es ein.
Unsere Enkel sehen das schwer ein. Anna ruft ihre Großmutter an und fragt: „Wann darf ich dich wieder besuchen?“ Durch die offene Tür hereinstürmen, ein kräftiger Kuss auf die Wangen, so wie immer, und dann erzählen. Bilderbücher rausholen, die Spielsachen aus dem Keller. Auf dem Sofa kuscheln. Ein Kuss zur Nacht.
Merkwürdige Zeiten sind das gerade. Die Dinge verkehren sich. Wie beim Verrat des Judas.
Der Maler unseres Tafelbild-Altares in der Klosterkirche, Carl Clobes, hat das eindrucksvoll in Szene gesetzt. Fast unterwürfig, von unten heraufblickend setzt er zum Kuss an. Er kann ihm nicht in die Augenschauen. Jesus steht aufrecht da. Er kennt die Absicht seines Jüngers. Ihre Hände scheinen sich zu berühren oder sind sie auf Abwehr?
Die Gefahr um ihn herum ist nicht zu übersehen. Schwerter und Stangen drohen.
„Hände?“ fragt er mich – „Nein“. Jetzt nicht. Ja, unsere Berührungen sind nur in der engsten Familie erlaubt in Zeiten von Corona.
Aber wir lassen uns berühren und wir berühren uns in diesen Tagen der Karwoche durch Briefe, E-Mails, gute Worte, einen Kuss im Zuwinken.
„Danke für deinen Brief, Großmama“, schreibt Anna. Corona trennt uns nicht. Und wenn alles vorbei ist, dann geben wir einander wieder die Hand und küssen wir uns wieder herzlich.
Wir leben am Ende ja doch von der körperlichen Nähe, wir sind auf den Anderen, die Andere angelegt.
Heinz Behrends, Superintendent i.R., Nikolausberg