Wir leben im Ausnahmezustand.
Alle gängigen Regeln von Anstand und Höflichkeit sind auf einmal falsch: Keiner gibt die Hand zur Begrüßung oder zur Verabschiedung. Auch die Moralvorstellungen sind anders: Wer sonst aus Umweltgründen den Zug nimmt, fährt jetzt lieber Auto, umso wenig Menschen wie möglich zu begegnen.
Liebevolles Handeln hat sich ins Gegenteil verkehrt: Jetzt ist es ein Zeichen der Liebe, wenn man Eltern oder Großeltern nicht besucht. Und der Nachbarin ein Blümchen ist Krankenhaus zu bringen, ist schlicht nicht möglich.
Der Predigttext für den heutigen Sonntag erzählt von Jesus und einer Frau:
Jesus ist da unterwegs auf dem Weg nach Jerusalem. Er übernachtet bei einem Mann namens Simon und sitzt mit ihm und mehreren anderen Männern beim Essen.
Da platzt eine Frau herein. Keiner kennt sie. Sie zieht ein Fläschchen mit wertvollem Öl aus der Tasche und gießt es Jesus über den Kopf. Salbt damit seine Haare.
Die anderen Männer sind sauer: Das kann doch nicht ihr Ernst sein!
Wer kann es ihnen verdenken? Die Frau verhält sich total daneben! Alle geltenden Regeln hat sie mal eben ignoriert:
Als Frau ist sie mitten in eine Männergesellschaft geplatzt. Ohne Einladung. Sie wartet nicht mal, bis die Männer mit dem Essen fertig sind. Nein, sie, eine Frau, berührt Jesu Haare und sein Gesicht. Unerhört ist das!
Und überhaupt: Hätte sie das Öl verkauft, hätte man das Geld den Armen geben können - das wäre immerhin sinnvoll gewesen!
Doch Jesus nimmt die Fremde in Schutz. „Lasst sie in Ruhe! Sie hat mir Gutes getan!“
Für Jesus gelten andere Maßstäbe. In seiner Gegenwart sind alle Regeln gesprengt. Wo Jesus ist, da ist auch Ausnahmesituation. Bei ihm zählt was anderes als Anstand und Höflichkeit: Er sieht die Liebe, die die Frau ihm entgegenbringt. Begegnet sind sie sich zuvor nie. Und doch opfert sie fast ein Jahresgehalt für ihn. Er sieht ihr Vertrauen, ihr Herz.
Im Ausnahmezustand zählt das auf einmal viel mehr: Das Herz. Die Innerlichkeit. Die Ehrlichkeit.
Ich muss meine Verunsicherung irgendwo lassen. Brauche jemandem, dem ich nichts vormachen muss. Dem ich mein Herz ausschütten kann, wie die Frau ihr Öl.
Im Internet habe ich gelesen, dass zur Zeit soviel auf der Welt gebetet wird, wie schon lange nicht mehr. Ich weiß nicht, wie man das herausfinden will und ob es stimmt.
Aber ich weiß, dass Jesu Nähe für mich neu an Bedeutung gewinnt:
Ich sehe abends so manche Kerze ab 19 Uhr im Fenster leuchten, angezündet als Zeichen der Hoffnung und der Verbundenheit.
Letzten Sonntag war ich allein zu einer kurzen Andacht in der Kirche. Zuerst war das ein komisches Gefühl. Aber dann habe ich mich der Gemeinde umso mehr verbunden gefühlt.
Ganz besonders beim Vaterunser. Weil die alten Worte mir so vertraut sind. In sie kann ich alles legen. Weil es von Jesus selbst kommt.
Und weil das Vaterunser von Christen in unseren Gemeinde und in der ganzen Welt gesprochen wird.
Jesus ist damals weiter nach Jerusalem gegangen. Er hat Todesangst gelitten. Am Kreuz hat er Leid und Schuld der Welt getragen. Er hat ausgehalten.
So hält er auch mit uns aus. Die Ungewissheit, die Verzweiflung, die Angst. Ausnahmezustand ist ihm vertraut. „Abstand halten“ gilt bei Jesus nicht. Bei ihm gibt’s keine Verhaltensregeln. Zu ihm kann ich kommen und alles sagen. Im Vaterunser oder mit anderen Worten. Bei ihm kann ich einfach nur da sein. Jeden Tag neu. Zu jeder Zeit. Ihm kann ich alles vor die Füße schmeißen. Sogar mich selbst.
Amen.
Anne Dill, Vikarin